Warum er das Taschenmesser mitnahm, konnte er selbst kaum erklären. Vielleicht gab es ihm ein trügerisches Gefühl von Sicherheit. Als könnte eine Acht-Zentimeter-Klinge einen 18-Jährigen vor der DDR-Diktatur schützen. Doch dieses Messer sollte in der Nacht auf den 15. Oktober 1950 alles schlimmer machen.
Hermann Flade aus der Kleinstadt Olbernhau im sächsischen Erzgebirge handelte naiv. Er verzichtete auf Handschuhe, als er 186 DDR-kritische Flugblätter stempelte, die ihm später als »Boykotthetze« ausgelegt wurden – weil Flade gegen die erste Volkskammerwahl der DDR wetterte. Das Gehabe des SED-Staats, von FDJ-Aufmärschen bis zu dieser Scheinwahl, erinnerten ihn an die NS-Zeit. Welche selbstzerstörerische Dynamik so ein Unrechtsstaat entfachen konnte, hatte seine Familie im brennenden Dresden erlebt.
Flade war aber auch couragiert. Er wusste um drakonische Urteile der sowjetischen Militärgerichte, auch gegen Studenten und Schüler. 1946 hatte ein mit Lippenstift verschmiertes Stalin-Porträt eine 14-Jährige für acht Jahre ins Zuchthaus gebracht. Nun wollte die noch junge DDR jede Opposition im Keim ersticken. Es war schon gefährlich, Orwells »1984« zu lesen oder ein »F« für »Freiheit« an die Wand zu pinseln. Und erst Mitte September 1950 waren drei Schüler zum Tode verurteilt worden, die über einen selbst gebastelten Piratensender Stalin als »Massenmörder« bezeichnet hatten.
Seine Freundin Christa weihte Flade daher nicht ein, obwohl sie ihr »Hermännchen« ungewollt auf die Idee gebracht hatte: Anfang Oktober 1950 erzählte sie aufgeregt von Flugblättern gegen die Wahl, die Polizei sei in Aufruhr. »So? Interessant«, antwortete Flade nur, wie er später schrieb. »Und die Entscheidung war gefallen.«
Die Geschichte des heute fast vergessenen Oberschülers ist facettenreich, aufwühlend und rätselhaft. Wer war dieser junge Kämpfer für die Freiheit, der viel Druck ertrug, später aber doch mit der Stasi kooperierte? Im Westen galt er als tragischer Held; die DDR staunte über seine Chuzpe und suchte nach vermeintlichen Anstiftern aus dem Westen. Doch Flade war Einzelgänger.
Der Stiefvater: »Lass dich nicht erwischen«
Karin König hat gut 70 Jahre nach der Flugblattaktion eine Flade-Biografie verfasst. Die Hamburger Publizistin und Sozialforscherin befragte Zeitzeugen, sichtete private Dokumente und Prozessakten. Ihr Porträt benennt Schwächen, lässt aber auch Bewunderung durchschimmern: »Der Mut des jungen Flade muss beeindruckend gewesen sein.« Seine Vernehmer habe er mit seiner »Direktheit, Gewieftheit, Naivität, auch Klugheit ein ums andere Mal irritiert«.
Zum Staatsfeind aus Sicht der DDR wandelte sich Hermann Flade am Abend des 14. Oktober 1950, dem Tag vor der Volkskammerwahl. »Ich hatte Angst. Ich musste gewaltsam das Zittern unterdrücken«, schrieb er in seinen 1963 verfassten Erinnerungen. »Ich hasste mich meiner Feigheit wegen, aber das Zittern war stärker als mein Zorn.«
Die Zettel warf er dennoch in Briefkästen, offene Fenster und Telefonzellen, klemmte sie in Fensterläden. »Selbstverständlich befestigte ich auch bei der Polizeiwache ein Blatt. Ich lief wie einer, der es eilig hat heimzukommen, aber ohne zu hasten.« Die Botschaften warnten vor »Wahlbetrug nach sowjetischem Muster« und riefen zum Widerstand auf:
»Ihr werdet zu Verantwortung gezogen. Denkt an die Strafe für die Naziverbrecher. Haltet euch vom aktiven Dienst in der sogen. DDR fern! (…) Auch die Ostzone wird befreit! Leistet Widerstand, soviel ihr könnt: Seid bereit! Mit den Bonzen wird abgerechnet. Noch ist Zeit zur Besinnung!«
Seine Eltern wussten von den Flugblättern. Hermanns Stiefvater warnte nur: »Lass dich nicht erwischen.«
Die DDR-Presse: »Feinde der Demokratie und des Friedens«
Als gegen halb eins in der Nacht nur noch wenige Zettel zu verteilen waren, geriet Flade in eine zivile Polizeikontrolle. Ein Beamter und eine Beamtin hatten zuvor ein Liebespaar gemimt. Als der Volkspolizist Flades Ausweis verlangte, wusste der Schüler: Man hatte ihn beobachtet. Er zog sein Messer und stach zu.
Die Klinge traf den Polizisten am Arm, im Kampf ging der Schüler zu Boden. Er stach dem auf ihn liegenden Beamten in den Rücken und konnte sich befreien: »Ich raste im Zickzack davon, der Schein der Taschenlampe folgte mir, ich erwartete jeden Moment Schüsse.« Doch die Zivilstreife war unbewaffnet, Flade konnte entkommen – und saß doch in der Falle. Bald hingen in Olbernhau Fahndungsblätter mit exakter Beschreibung.
Am 16. Oktober 1950 wurde Flade verhaftet. Erst leugnete er alles, trotz erdrückender Beweise. Man hatte Haare von ihm gesichert, dazu Fingerabdrücke auf den Zetteln. Als seine Eltern und die Oma ebenfalls verhaftet wurden, gestand er.
Zur Überraschung der politischen Vernehmer bereute er allein die Messerstiche. Ungerührt gab Flade am 19. Oktober 1950 zu Protokoll, man müsse die DDR und ihre Organe »passiv und aktiv bekämpfen«. Er stehe »heute noch« dazu und bereue seine Flugblattaktion »auf keinen Fall«. Seiner Schilderung zufolge drohte ihm ein Vernehmer: »Na, deine Bombenruhe wird dir schon vergehen, wenn du vor dem Schafott stehst.«
Die DDR wollte am renitenten Schüler ein Exempel statuieren – mit einem öffentlichen Schauprozess im vollen Dresdner Konzerthaus »Tivoli«. Am 10. Januar 1951 übertrug das Landgericht den Prozess im Rundfunk und per Lautsprecher auf einen Platz vor dem »Tivoli«. Flades Klassenkameraden und weitere Schüler brachte man eigens dorthin.
Der Schüler: »Die Freiheit war mir lieber als mein Leben«
Die SED-kontrollierte Presse forderte eine »strenge Bestrafung derartiger Elemente«, sie seien »Feinde der Demokratie und des Friedens«. Die Anklage lauteten auf »Boykotthetze« in Tateinheit mit militärischer Propaganda und versuchtem Mord.
Dem Stiefvater Erich hatten die Vernehmer wohl unter massivem Druck entlockt, Hermann sei »schwer erziehbar«; man habe ihn in eine Erziehungsanstalt schicken wollen. Das Taschenmesser wurde im Prozess immer bedrohlicher und nun zu einem Hirschfänger mit einer 50 bis 60 Zentimeter langer Klinge. Dass der Beamte nur leichte Verletzungen erlitt, wurde unterschlagen. Das »Neue Deutschland« behauptete später sogar, Flade habe den Polizisten erstochen.
Der Schüler selbst, von der Kulisse kaum eingeschüchtert, erzählte freimütig von seinen Zweifeln an der FDJ, der er nur unwillig beigetreten sei. Von erschreckenden Arbeitsbedingungen im Bergbau, wo er vor der Rückkehr zur Schule eine Zeit lang gearbeitet hatte. Insgesamt habe er auf Demokratie gehofft, die DDR ihn aber mit Propaganda enttäuscht. Zu seinem Motiv sagte er: »Die Freiheit war mir lieber als mein Leben.«
Das war zu viel – der Schauprozess drohte sich gegen den Staat zu wenden. Sofort nach Flades Satz erklang ein gebelltes »Abschalten!« über die Lautsprecher. Dann brach die Übertragung lange ab, wie Zeitzeugen sich später erinnerten. Am Nachmittag verkündete das Gericht die Todesstrafe für den Teenager.
Rias-Kommentar: »Ein grausameres und unmenschlicheres Urteil ist selten gesprochen worden«
Die DDR-Presse lobte das Urteil gegen den »hetzenden Mordagenten Flade«. In der Bundesrepublik dagegen war das Entsetzen groß. Der Rundfunksender Rias kommentierte: »Ein grausameres und unmenschlicheres Urteil ist selten gesprochen worden.« Westdeutsche Politiker und Verbände setzten sich für Flade ein. In West-Berlin versammelten sich 5000 Menschen zu einer Kundgebung am 28. Januar 1951. Der Brief eines schwedischen Schülers berührte viele: »Ich kann nicht sehen, dass sie einen Jungen morden lassen. (…) Er ist doch noch ein Kind.«
Besorgt stellte die Stasi auch in der DDR zahlreiche Solidaritätsaktionen fest. Auf Flugblättern hieß es: »Es lebe Freiheit«, und drohend: »Für Flade werden 10 eurer Leute sterben.« Lehrer, die sich zu wenig von Flade distanzierten, wurden entlassen und sympathisierenden Schülern hohe Haftstrafen aufgebrummt.
Der Druck aus dem Westen zeigte Wirkung. Im Schnellverfahren wurde das Urteil gegen Flade revidiert. Damit die DDR ihr Gesicht wahren konnte, wurde der Schüler zu einem Gnadengesuch gedrängt; halbherzig bereute er darin sein Verhalten im »Tivoli«-Prozess. Das neue Urteil vom 29. Januar 1951 lautete: 15 Jahre Zuchthaus.
Damit begann ein Martyrium in berüchtigten Anstalten wie Bautzen und Waldheim. Mit schwarzem Humor schrieb das »dich immer treu liebende Hermännchen« seiner Freundin Christa, diese »Lappalie« werde er fix absitzen. Bald seien die beiden verheiratet und er müsse sich mit seinen sicher missratenen Kindern herumschlagen. Die Gefängnisleitung kassierte diesen wie andere Briefe ein.
Dass er keine Post erhalte, »macht mich manchmal fertig«, schrieb Flade an Familie und Freundin. Und ahnte richtig: »Sicher liegt es nicht an euch?« Erst 1957 durfte ihn seine Mutter besuchen. Schwer an Tuberkulose erkrankt, fragte sich der junge Mann schon 1955, ob es »so schlimm« wäre, wenn er im Haftkrankenhaus »eingeht«. Nach eigenen Angaben beging er zwei Suizidversuche.
Eine rätselhafte Stasi-Verpflichtung
Derweil setzte die Stasi den Informanten »Gold« auf ihn an: Flade sollte sich »freiwillig« von vermeintlichen »westlichen Machenschaften« lossagen und seine Flugblattaktion öffentlich bereuen, mit der Aussicht auf eine frühere Entlassung. Er weigerte sich.
Umso erstaunlicher wirkt es, dass Flade sich 1958 noch im Gefängnis verpflichtete, fortan unter dem Decknamen »Gerlach« für die Stasi zu spitzeln. Sein Motiv ist unklar: War der Druck zu groß? Wollte er mit einer Schein-Verpflichtung schneller freikommen? Manches deutet darauf hin, dass Flade naiverweise hoffte, man werde ihn zur Spionage im Westen einsetzen – und er könnte so entkommen oder ein doppeltes Spiel treiben.
Wiedervereint: Hermann Flade mit seinen Eltern auf dem Bahnhof von Hof – nach seiner Freilassung im Rahmen einer Amnestie lebte die Familie in Bayern
Foto: Alex Waidmann / ullstein bild
Am Ende lieferte er kaum Brauchbares, kam Ende 1960 vorzeitig aus der Haft und zog zu seinen Eltern, die inzwischen in Bayern, Heimat seiner Mutter, lebten. Den Verfassungsschutz informierte er über seine vormalige Stasi-Tätigkeit.
Flade heiratete 1966, wenn auch nicht seine Jugendliebe Christa. Er studierte, wurde dreifacher Vater, engagierte sich politisch, etwa bei der Jungen Union, und promovierte in Mainz. Ob er im Westen glücklich wurde? 1980 starb er an einem Schlaganfall. Einige ihm Nahestehende vermuten, er habe sich das Leben genommen.
17 Jahre später wurde Hermann Flade rehabilitiert – und seine einstige Verurteilung für rechtsstaatswidrig erklärt.