Der erste Eindruck
Zwei LED-Schlitze, dazu der kleine Höcker des Frontradars – fertig ist der Multistrada-Falkenschnabel.
Das sagt der Hersteller
Als die Multistrada 2002 in Mailand vorgestellt wurde, waren die Fans der italienischen Marke skeptisch: Ducati, das war Rennsport pur. Große Enduros, diese seltsamen Multi-Tools für Fernfahrer, passten nicht ins Weltbild der Ducatisti. Mit mehreren Modell-Updates und Designwechseln hat sich das Fremdeln in Begeisterung für das Reiseschiff gewandelt: Weit mehr als 120.000 Multistradas sind inzwischen verkauft.
Jetzt also die nächste Generation des Großtourers: Aus V2 wird V4. Der neue »Grantourismo«-Motor mit vier statt bisher zwei Zylindern stammt ursprünglich aus der MotoGP-Rennserie. Er hat knapp hundert Kubik weniger (1158) als das Vorläufermodell 1260, leistet mit 170 PS aber zehn mehr als der alte.
Das Kraftpaket mit 67 kg Gewicht greift tief in die Ducati-DNA ein, weil die Entwickler auf die traditionelle Desmodromik verzichten: Zum ersten Mal werden 16 Ventile eines V4-Motors aus Bologna nicht mehr durch Hebel zwangsgesteuert, sondern mit Federn geschlossen. »Das bedeutet nicht, dass wir unser Erbe über Bord werfen«, sagt Johannes Stilz von Ducati Deutschland. »Wenn wir bei unseren Supersportlern auf der gleichen Motorbasis 16.000 Umdrehungen und weit über 220 PS rauskitzeln, setzen wir weiter auf Desmodromik.«
Bei der Multistrada mit ihren maximal 10.500 Umdrehungen bringt das Federsystem einen Vorteil: Der teure Ventilservice ist nur noch alle 60.000 Kilometer fällig.
Das ist uns aufgefallen
Der Motor ist nicht die einzige Neuerung an der Multistrada 2021. Das Design ist weniger flächig, die Verkleidung stark zerklüftet. Ducati sagt, das sei die Folge ausgeklügelter Tests im Windkanal. Unter dem neuen, flotten Kleid verbirgt sich ein gänzlich verändertes Chassis und statt dem bisherigen Stahlrohr ein Aluminium-Monocoque-Rahmen.
Also: Raus zum Test im Hinterland von Ingolstadt. Es ist kalt und neblig.
Start mit dem Funkschlüssel. Der Sound ist bassig, aber für eine Ducati angenehm zurückhaltend. Das Standgeräusch liegt bei moderaten 92 dB(A). Zum Vergleich: Die Ducati Streetfighter V4 S mit ähnlichem Motor bringt infernalische 106 Dezibel auf den Prüfstand; über 95 dB(A) sind manche Strecken in Österreich schon gesperrt.
Die Ergonomie passt, man fühlt sich sofort heimisch am schmal taillierten Arbeitsplatz. Das Cockpit ist aufgeräumt; das 6,5 Zoll-TFT-Farb-Display hervorragend lesbar. Die Bordelektronik ist mit allem bestückt, was der sportliche Tourenfahrer im Jahr 2020 erwartet: IMU-Sensorik, semi-aktives Fahrwerk, Kurven-ABS, Traktions- und Wheelie-Kontrolle, Quickshifter, Kurvenlicht, Berganfahrhilfe, Ducati Connect mit Navi-Funktion sowieso.
Hinzu kommen zwei Features vom Lieferanten Bosch, mit denen Ducati besonders wuchert: Front- und Heckradar. Letzteres hat die Audi-Tochter 2021 exklusiv. Die Sensorik-Box im Bug der Multi arbeitet mit dem Tempomat zusammen. Nachdem die Laufgeschwindigkeit zwischen 30 und 160 km justiert ist, wird zusätzlich über zwei Plus/Minus-Tasten des Radars der Abstand zum Vorausfahrenden definiert.
Wenn der bremst oder ein Hindernis in Sicht ist, nimmt das System automatisch Gas weg und schaltet die Bremsen mit maximal 0,5 g Verzögerung zu. Das funktioniert auch umgekehrt; mit leichter Verzögerung zwar, aber erstaunlich präzise: Vergrößert der Vordermann die Lücke, lässt das Frontradar das Fahrzeug parallel beschleunigen. In diesem Schleppbetrieb lassen sich normale Autobahnpassagen abspulen, ohne dass die Gashand eingreifen muss. Bei Premium-Pkw ist der Abstandsregeltempomat ACC längst Standard; mit mehr Sensoren und Rundumkameras aber feiner justiert. Aber Langstreckenfahrer, vor allem in der Gruppe, werden von dem ersten Motorradsystem begeistert sein.
Was man wahrscheinlich vom Heckradar, der »Blind Spot Detection«, nicht behaupten kann. Die hinteren Radaraugen scannen beim Spurwechsel oder in der Kolonne schnellere Objekte in toten Winkeln rechts und links. Die Folge: Gelbe Blinkleuchten in den Spiegeln senden Signale in der Frequenz einer wildgewordene Discokugel. Das nervt, lenkt ab und reizt zu purem Unsinn. Wir haben beim Test angefangen, den Vordermann zu quälen, indem wir zwischen 10 und 12 Metern Abstand pendelten und dadurch seine Leuchten permanent an- oder ausgeknipst haben. Also: Das Heckradar übers Menü dauerhaft ausschalten.
Dann kann man auf der Landstraße wieder die große Stärke der Multi V4 genießen: Der Motor, das Chassis, die Elektronikunterstützung und die perfekt abgestimmten Fahrwerkskomponenten machen die Multi zu einem runden Komplettpaket. Schon ein leichter Dreh am Griff schiebt die Vierteltonnerin ab 2500 Umdrehungen mit einer überbordenden, zwingenden Power nach vorne.
Das irre dabei: Man spürt die Kräfte kaum. Es passiert einfach, da ist kein Rütteln, kaum eine Vibration. Die ausgeklügelte Aerodynamik der Verkleidung und des Windschutzes unterstützen die ausgeprägte Laufruhe. Das ist sensationell perfekt, aber auch etwas seelenlos. Man ertappt sich dabei, die raue Charakterstärke des alten Desmodromik-V2 zu vermissen.
Trotzdem wird der Fahrer schnell warm mit Ducatis neuem Enduro-Flaggschiff. Nach zwei Jahrzehnten Entwicklungszeit ist die Multistrada zu einer ernsthaften Konkurrentin der großen BMW GS herangewachsen – zumindest im Straßenbetrieb.
Das muss man wissen
Ducati liefert die Multistrada V4 in drei Versionen aus: Standard V4 (deren Verkaufszahlen in Deutschland erfahrungsgemäß verschwindend klein sein werden), die V4 S, die wir in Ingolstadt gefahren sind, und die V4 S Sport (mit Akrapovič-Auspuff und Karbonteilen).
Gegenüber der Standardversion hat die V4 S – in den Farben »Ducati Red« und »Aviator Grey«- sinnvolle Updates: etwa das semi-aktive Skyhook Fahrwerk, Kurvenlicht, einen größeren Bildschirm, den Quickshifter. Das schlägt sich im Preis nieder; er geht bei 20.455 Euro los. Mit optionalen Speichenrädern, einer der vier zusätzlichen Ausstattungsvarianten und vier möglichen Zubehörpaketen liegt das Motorrad schnell über 25.000 Euro.
Das werden wir nicht vergessen
Im Grunde ist es eine lobenswerte Neuerung der Multistrada: Die Navigation per Joystick durch die Untiefen der Einstellungsoptionen. Doch leider haben die Entwickler in Bologna in ihrer Begeisterung zu viel Funktionalität in den Knubbel gepackt.
Zum Beispiel die Griffheizung. Die hat an der rechten Armatur eine eigene Taste, doch die schaltet nur den Joystick links scharf, mit dem man sich mit dicken Handschuhen durchs Menü und drei Heizstufen hangeln muss. Das ginge mit drei Mal Tastendruck leichter.
Fahrzeugschein
Hersteller |
Ducati |
Typ |
Multistrada V4 S |
Karosserie |
Motorrad |
Motor |
Vierzylinder-90°-V-Motor |
Getriebe |
Sechsganggetriebe |
Hubraum |
1158 ccm |
Leistung |
125 kW / 170 PS bei 10.500 U/min |
Drehmoment |
125 Nm bei 8.750 U/min |
Höchstgeschwindigkeit |
> 230 km/h |
CO2-Emissionen |
162 g/km |
Standgeräusch |
92 dB(A) |
Gewicht |
243 kg fahrbereit |
Tankinhalt |
22 l |
Preis |
20.455 Euro |